Vierundzwanzig
Die Biologin näherte sich dem regungslos auf dem Boden liegenden letzten Menschen. Seit der Zerstörung des Mannes hatte die Frau nichts mehr gegessen, nichts mehr getrunken und sich nicht mehr bewegt.
Vorsichtig berührte sie mit ihrer Antenne diesen Menschen, der ihr nun gar nicht mehr als Monster erschien, sondern als schutzbedürftiges weiches Wesen, fast wie ein junges, unreifes Glied des Volkes.
Mit der Berührung stellte sich wieder diese nun schon gewohnte Verbindung der Persönlichkeit des fremden Wesens mit der des Volkes ein. Doch die Biologin konnte sich noch immer nicht an die schlecht strukturierten, fremdartigen Impulse und Symbole gewöhnen, die auf sie einstürmten. Trotz der Reglosigkeit der Frau waren diese nun heftiger, als die Male zuvor. Symbole wie ›Verzweiflung‹, ›Hoffnungslosigkeit‹ und ›Trauer‹ tauchten auf, doch all diese Symbole waren für das Volk bedeutungslos. Die Biologin konnte sie darum auch nicht übermitteln. Stattdessen transformierte sie die Vielzahl der durcheinanderwirbelnden Gefühle und Gedanken Giannas in das simple Symbol ›Instabilität‹, vermischt mit ›Gefahr‹. Letzteres alarmierte allerdings die Soldatinnen, sodass sie es eilig in »mögliche Bedrohung« abschwächte.
Zufällig glitt die Antenne über Giannas Rücken, als die Biologin einen Schritt näher trat, und sie registrierte, dass dieses Gleiten einen winzigen Funken positiver Impulse hervorrief. Also wiederholte und variierte die Biologin diese sanften, gleitenden Bewegungen mit ihren weichen Antennen, und empfing das Symbol ›Streicheln‹ für diesen Vorgang, der bei den Menschen offenbar positiv konnotiert war. Für das Volk war auch dieser Begriff bedeutungslos. Schwache Berührungen des intakten Exoskeletts riefen bei erwachsenen Gliedern des Volkes keinerlei Empfindungen hervor. Die Biologin transformierte den Begriff daher in das Symbol, das die Fürsorge für Jungglieder ausdrückte. Bei Larven war der Chitinpanzer noch nicht ausgebildet, und sie mussten daher sanft behandelt werden.
War es das? Waren diese Menschen am Ende Larven einer noch unbekannten Lebensform? Das würde ihre seltsame Hilflosigkeit erklären, die sie an den Tag legten, obwohl sie ganz offensichtlich Produkte einer hoch entwickelten Zivilisation waren. Dieser Gedanke war einerseits stimulierend, weil er für viele Rätsel eine Antwort bot, andererseits aber auch beunruhigend, denn was würde geschehen, wenn die adulten Menschenwesen hierher kommen sollten? Möglicherweise waren sie bereits auf der Suche nach ihrer verlorenen Brut!
Im Moment konnte man aber nichts machen. Der Bau war bereits für den Winter versiegelt, und die Aktivität der Glieder nahm von Tag zu Tag ab. Bald würde Hel nicht mehr aus dem Schatten von Thet treten, und dann würde das Volk in Winterruhe gehen. Und alles andere Leben auch. Sogar die Ktck stiegen dann nicht mehr auf. Es war unvorstellbar, dass irgendein Lebewesen in der Winterphase aktiv sein könnte. Bis zum Frühling drohte keine Gefahr.
»Und was ist mit mir?«, drang ein kristallklarer Gedanke durch den Kollektivintellekt. Das Ungeheuer! Die Biologin hatte diesen Impuls nicht transformieren können, da ihr dieser Gedanke, der eine Individualität des Wesens andeutete, unverständlich war. Sie hatte ihn ungefiltert durchgelassen. Und es ging noch weiter: »Ich kann keine Winterruhe halten!«
Auch das war unverständlich. Wie sollte ein Wesen überleben, das keine Winterruhe halten konnte? Was sollte es essen? Wie sollte es atmen, wenn die Luft ihm die Atemwege einfror?
Auf all diese Fragen gab es keine Antworten.
Die Biologin streichelte weiter. Sie probierte immer neue Variationen aus, und ließ sich davon leiten, ob ihre Berührungen zu positiver oder negativer Rückkopplung führten. Am Ende hatte sie einige Muster identifiziert, die bei dem Menschen zu maximal positiven Empfindungen führten. Gleichzeitig lernte das Volk unermüdlich, denn noch immer strömte eine Vielzahl von unbekannten, der Welt der Menschen entstammenden Symbole und Gedankenfolgen aus Giannas Geist zum Kollektivintellekt. Später würde das Volk das Gelernte verarbeiten, in begreifbare Symbole übersetzen und in der Kollektiverinnerung ablegen. Später würde man viel Zeit dafür haben. Jetzt musste alles gelernt werden, was es zu lernen gab. Und das Streicheln schien die Schleusen zu vielerlei Assoziationen zu öffnen. Irgendwann sank das Wesen in einen anderen Bewusstseinszustand, welcher mit ›Schlaf‹ symbolisiert wurde. Es war nicht dasselbe, wie die Winterruhe, denn es war alles andere als ein passiver Zustand. Es schien eher mit dem Verarbeitungsprozess des Kollektivintellekts vergleichbar zu sein: Das Gehirn des Menschen war hoch aktiv und verknüpfte neu erfasste Symbole mit früher Gelerntem zu immer neuen Assoziationen. Das Volk gewann eine Unmenge an Informationen über die Menschen und ihre Welt aus diesem Schlaf-Zustand. Nicht, dass es diese Informationen verstanden hätte. Aber zum Verstehen lernen würde später noch Zeit sein.
Dann war die Traumperiode vorbei, und Giannas Geist näherte sich dem Zustand des Bewusst-Seins. In dieser Phase registrierte das Volk überrascht Konjunktionsschwingungen. Offenbar waren dazu doch nicht zwei Exemplare der Menschen notwendig! Das Lochwesen konnte auch ohne Stabwesen funktionieren! Es war nicht genau dasselbe, es waren andere Symbole wie Überraschung und Verärgerung, und immer noch Trauer hineingemischt, aber es waren eindeutig Konjunktionsschwingungen. Oder sexuelle Erregung, wie es die Menschen offenbar nannten. Und die Biologin fand heraus, dass sie durch bestimmte Berührungssequenzen diese Schwingungen verstärken konnte. Das Menschenwesen begann, trotz der Kälte Feuchtigkeit abzusondern. Aus den Augen trat ebenfalls Wasser aus – Weinen, erkannte die Biologin plötzlich. Das Wesen weinte, während seine Lust immer weiter anstieg. Es war wütend und traurig und erregt und angeekelt. All dies erkannte die Biologin plötzlich und unerwartet. Die Erfahrungen des Traums und der lang dauernden Verbindung zu Gianna hatten sie gelehrt, die Symbole der Menschen besser zu lesen, und teilweise sogar zu verstehen! Mitgefühl! Etwas Neues im Intellekt des Volkes. Das Gefühl, das Unglück eines anderen Wesens ebenfalls mit negativen Empfindungen zu verknüpfen. Empathie! Zu wissen, was für Empfindungen ein anderes Wesen, ein anderes Volk hatte, und daher auch zu wissen, was es sich wünschte. Es wurde auch immer deutlicher, dass dieser Mensch eher mit einem anderen Volk zu vergleichen war, als mit dem Glied eines Volkes. Nur so konnten die meisten Gefühle und Ambitionen erklärt werden. Das hieß: Das Volk hatte einem anderen Volk Zutritt in seinen Bau gewährt! Ein obszöner Gedanke! Als ob man mit einem anderen Volk friedlichen Umgang haben könnte!
Gianna näherte sich dem Höhepunkt der Konjunktionsschwingungen, dem Orgasmus. Die Biologin hatte ihr Streicheln nun auf zwei Regionen beschränkt: die Thoraxwölbungen und die Region zwischen den Hinterbeinen. Sie hatte sogar ihre irrationale Urangst vor Wasser überwunden und ihre Antenne in jene Nässe getaucht, in die das Stabwesen auch seinen Stab versenkt hatte. Das Volk empfand die Schwingungen wegen dieser direkten Verbindung diesmal viel, viel stärker als je zuvor. Doch dann, kurz vor dem Orgasmus, entstand aus der Mischung aus Lust, Angst, Trauer und Ekel in Giannas Gehirn ein neuer, alles überstrahlender Gedanke:
Todeswunsch.
Und in dem Moment, indem Gianna aufschrie, und die Glieder des Volkes in konvulsivische Zuckungen verfielen, behielt die Biologin genug Kontrolle, um ihre Kiefer um den Hals des Ungeheuers zu legen. Und mit dem dritten oder vierten Zucken des Orgasmus trennte sie den Kopf des fremden Wesens vom Rumpf.
weiter geht es hier mit Chitin – Teil 25
Das Titelfoto für diesen Beitrag wurde mir freundlicherweise
von dem Fotografen Thomas Mattern zur Verfügung gestellt.
Mehr von Thomas Mattern findet ihr in seiner Galerie bei unART-Fotokunst.
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2 Gedanken zu „Chitin 24“