Dreiundzwanzig
Den ersten Winter auf New Hope verbrachte Leena im gestrandeten Raumschiff, umgeben nur von den zehn Embryonen, die in ihren künstlichen Gebärmüttern heranwuchsen. Eine mehr als zweihundert Meter dicke Schneedecke türmte sich über ihr. Anfangs hatte sie sich noch die Mühe gemacht, jeden Morgen den Gang zu verlängern, der durch den Schnee nach oben führte. Doch dann war die weiße Sonne gar nicht mehr erschienen, und es wurde so kalt, dass sie es auch im Schutzanzug nicht mehr aushielt. Trockeneis aus gefrorenem Kohlendioxid bildete die oberste Schicht der weißen Hülle, die die Polarregion bedeckte. Nach dem Kondensieren des CO2 war die Temperatur schlagartig noch weiter gefallen, auf unter minus 90 Grad. Und dann, endlich, war auch der Nachthimmel klar geworden und ein grandioser, fremdartiger Sternenhimmel breitete sich aus. Die fledermausähnlichen Wesen, die jeden Abend aufgestiegen waren, sobald die helle Sonne unterging, waren jetzt verschwunden. Leena hatte nie herausgefunden, wo diese Wesen ihre Tage verbrachten. Doch sie würde es herausfinden müssen. Wie so vieles auf dieser Welt.
Sie hatte sich, nach einigem Überlegen, dazu entschlossen, fünf Mädchen und fünf Knaben auszubrüten, wobei sie sorgfältig darauf geachtet hatte, dass die zehn Embryonen aus möglichst unterschiedlichen Ethnien stammten. Dies würde ihre erste Kolonistengeneration sein. Doch vorerst waren sie nur winzige Embryonen in Behältern aus Metall, weichem Kunststoff und Glas, die in einem Schiff aufwuchsen, welches unter einer dickeren Schneedecke begraben war, als die kühnste Fantasie erwartet hätte.
Leena hatte nicht viel Zerstreuung in diesem ersten Winter. Sie studierte die vorhandenen Unterlagen über New Hope. Sie schaute noch einmal die Aufzeichnungen ihrer misslungenen Rettungsmission an, und sie sah Ivan noch einmal durch die Luftschleuse in die Tiefe fallen. Wieder und wieder versuchte sie, von seinen Lippen die letzten Worte abzulesen, die er gerufen haben mochte, als er realisierte, dass sie ernst machte. Doch vermutlich hatte er nur vor Angst geschrien. Sie versuchte, Trauer oder Reue zu empfinden, aber es gelang ihr nicht.
Oft benutzte sie eine der Fickmaschinen. Mit viel Liebe zum Detail hatte die Mannschaft diese Geräte konstruiert und konfiguriert. Es machte vielen Männern Spaß, die Kajiras von einem Apparat abficken zu lassen, wenn sie selber nicht mehr konnten oder wollten. Und ja, den meisten Kajiras hatte es ebenfalls Spaß gemacht, auch wenn es nicht alle zugaben. Leena benutzte sie nun jedenfalls täglich, manchmal sogar zwei- oder dreimal. Beobachtet nur vom Bordcomputer, der wie immer alles getreulich aufzeichnete.
Nach neun Monaten war der Winter auf seinem Höhepunkt. Die Einsamkeit und Langeweile hatte Leena an den Rand des Wahnsinns getrieben. Sie hatte so viele Filme gesehen, dass sie manchmal glaubte, diese seien die Realität und New Hope nur die Phantasie einer Geisteskranken. Doch jetzt waren die Babys so weit. Jeden zweiten Tag entband sie eines aus den Brutkästen. Alle waren gesund. Aber das Füttern und Frischmachen hielt Leena Tag und Nacht auf Trab, und sie verfluchte sich mehr als einmal dafür, in den Wochen zuvor nicht mehr Schlaf vorgeholt zu haben.
Die Babys waren drei Monate alt, als die helle Sonne erstmals wieder aus dem Schatten des roten Riesen trat. Der Winter war zu Ende. Der Schnee verdichtete sich, und wenn man die Schleuse öffnete, hörte man ein dauerndes Tropfen und Rauschen. Das Sonar zeigte ihr, dass das Schmelzwasser durch den porösen Kalkboden in die Tiefe strömte. Irgendwo würde es sich sammeln.
Als die Schneedecke weit genug abgeschmolzen war, startete sie das Shuttle für einen Rundflug im Licht der fast im Zenit stehenden gleißenden weißen Sonne. Die Babys ließ sie allein, musste sie allein lassen. Sie waren in einem geschlossenen Raum ohne Verletzungsgefahren und in engem Kontakt miteinander. Sie würden sich nicht allzu einsam fühlen. Leena wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab. Sie hatte nun zu viel zu tun, um sich dauernd um die Kinder kümmern zu können. Und, ja, mit einer Faser ihres Wesens freute sie sich darüber, mal wieder Zeit nur für sich zu haben. Mit zunehmender Begeisterung studierte sie, wie die Welt zum Leben erwachte. Der Wasserfall kam wieder in Gang. Mehr und mehr Wasser strömte entlang der Eissäule, zu der er erstarrt gewesen war, hinunter, und schließlich zerbrach das Eis unter dem Einfluss des kräftigen, warmen Südwinds, und riesige Eisberge stürzten nieder und zerschellten am Grund in tausend Stücke. Das Tiefland war noch erstarrt, die Flüsse leer. Der Ozean war gefroren. Bei keinem der Ameisenbauten war irgendeine Bewegung zu erkennen. Jetzt wäre es ein Leichtes, Rache zu nehmen, und den Bau zu vernichten, der ihre Expedition zerstört hatte. Doch diesen Gedanken verwarf Leena sofort. Wozu wäre dies nütze? Die Menschen waren als Eindringlinge gekommen, und die Eingeborenen dieser Welt hatten sich nur gewehrt.
Sie hatte wichtigere Aufgaben als sinnlose Rache. Sie musste eine Kolonie errichten. Eine Zukunft für die Babys.
weiter geht es hier mit Chitin – Teil 24
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2 Gedanken zu „Chitin 23“