Zwölf
Das Volk wartete ungeduldig. Zwei volle Thet-Perioden waren nun vergangen, ohne dass die Monster wieder diese besonderen Wellen abgestrahlt hätten, nach denen der ganze Bau so sehr verlangte. Zwar nahm das Lochwesen den Stab des Anderen manchmal in seine Kopföffnung, aber es kam nicht zu diesen rhythmischen Bewegungen. Möglicherweisen verstanden die Wesen einfach nicht, was das Volk von ihnen erwartete. Sie verloren ihre Aktivität, und ihre Oberflächen wurden wieder matt und eingesunken. Es war offensichtlich, dass ihnen das Wasser fehlte. Wenn nur irgendeine Kommunikation möglich gewesen wäre! Aber die Ungeheuer reagierten kaum auf Gesten und Pheromone, und überhaupt nicht auf die Kollektivprojektion. Sie wirkten wie niedere Lebewesen, die sich rein instinktgetrieben verhielten. Die Frage, wie derart lebensuntüchtige Geschöpfe überhaupt existieren konnten, blieb weiterhin unbeantwortet. Man müsste sie in ihrem natürlichen Umfeld studieren. Aber wie mochte das aussehen? Und wo mochte das sein? Ihr fliegender Bau war ja leider zerstört.
Jedenfalls würde man gar nichts erreichen, wenn die Monster vertrockneten. Also empfahl die Biologin, ihnen zunächst eine kleine Menge Wasser zu geben und mehr, wenn sie ihre Aktivitäten wieder aufnahmen. So brachten Soldatinnen zwei Behälter mit Wasser. Eigentlich hatte die Biologin gedacht, dass jedes von ihnen den Inhalt eines Behälters absorbieren würde, aber tatsächlich nahm das Stabwesen beide und leerte sie hastig. Das Lochwesen hatte seine Hinterextremitäten zusammengefaltet und bewegte sich erst, als das andere ihm einen Behälter überließ. Matt streckte es seine Tentakel aus und bewegte die Schale zu seiner Kopföffnung. Offenbar versuchte es, sich an den verbliebenen Wasserresten zu laben. Schnell empfahl die Biologin, mehr Wasser zu bringen, und so geschah es. Doch wie sollte man weiter vorgehen? Wenn man den Monstern kein Wasser gab, würden sie sterben. Aber wie konnte man sie dazu bringen, in Konjunktion zu gehen, um diese besonderen Schwingungen auszusenden?
Der Kollektivintellekt des Volkes arbeitete unermüdlich an der Strukturierung und Klassifizierung des Erlebten. Ein Begriff wie Konjunktion war natürlich nicht als solcher abgelegt oder irgendwo gespeichert. Es war ein Symbol. Ein einfacher Schlüssel, der denjenigen Teil des Kollektivgedächtnisses öffnete, der alles bisher darüber Gelernte enthielt, wie das Stabwesen und das Lochwesen sich verhielten, bevor, während und nachdem sie diese Schwingungen aussandten.
Gebannt wartete das Volk, nachdem die Monster sich gelabt hatten, auf die nächste Konjunktion. Doch es musste sich gedulden. Zunächst erhob sich das Stabwesen und begann seinen seltsamen Tanz, den es schon einmal aufgeführt hatte: Es eilte zu den Soldatinnen, die den Wächterkreis bildeten, berührte diese mit schnellen, ruckartigen Bewegungen der vorderen und dann der hinteren Extremitäten am Kopfschild, bevor es wieder weg eilte und denselben Tanz bei einer anderen Soldatin aufführte. Beinahe hätte man dieses Verhalten als Aggression deuten können, doch dafür war es zu harmlos. Bedrohlicher erschien da schon der Wasserangriff. Das Stabwesen spritzte diesmal sein Wasser direkt auf den Kopf einer Wächterin. Diese zog sich blitzschnell einen Schritt zurück und hob drohend ihre Mandibel. Die Biologin setzte ihr gesamtes Charisma ein, um die Soldatinnen daran zu hindern, das angreifende Monster zu zerfetzen.
Immerhin: Der Angriff brachte wieder neue Erkenntnisse: Das Wasser des Monsters war von anderer Art als das, was man ihm gebracht hatte. Es roch anders und sah auch anderes aus. Das Wesen musste das Wasser transformiert haben. Allerdings blieb der Zweck dieser Transformation unklar.
Das Lochwesen schien erkannt zu haben, dass dem Stabwesen Gefahr drohte, denn es eilte zu ihm und zerrte es in die Mitte der Arena. Die Biologin konnte die Handlungen, die schlecht strukturierten Basisschwingungen und die Körpersprache der Monster immer besser deuten. Das Lochwesen zeigte Angst, das Stabwesen wohl Aggression. Auch diese Erkenntnisse gelangten in den Kollektivintellekt: Die fremden Geschöpfe waren wohl nicht zu echter Kommunikation fähig, aber sie hatten doch rudimentäre Verständigungssysteme, die auf Bewegungen, Gerüchen und Absonderung von Flüssigkeiten basierten. Außerdem schienen sie manchmal Luftschwingungen unterschiedlicher Frequenz zu erzeugen, die ebenfalls eine niedere Form der Kommunikation sein mochten. Die Biologin konnte diese Schwankungen des Luftdrucks an ihren empfindlichen Antennen fühlen, aber keine Struktur darin erkennen. Sie hatte auch festgestellt, dass oft gleichzeitig die oberen Extremitäten oder die Mundöffnung der Monster bewegt wurden. Möglicherweise handelte es sich bei den Luftdruckwellen also um eine Art Begleiterscheinung einer noch unerklärlichen Gestensprache. Es wurde immer deutlicher, dass man diese Wesen genauer studieren musste, bevor man sie sterben ließ. Wenn nur der Winter nicht so nah wäre!
Da – Hel war gerade unter dem Horizont verschwunden und die Ktck verdeckten den Himmel, da sandte das Stabwesen seine Konjunktionsschwingungen aus, und sein Stab begann, sich zu heben. So hatte es immer begonnen. Das Volk wartete atemlos. Tatsächlich: Das Stabwesen bewegte sich unsicher und tastend – offenbar konnte es bei Thet wirklich nichts sehen – auf das Lochwesen zu. Kaum hatte es seinen Gefährten gefunden, umschlang es dessen Thorax mit seinen Tentakeln. Nach kurzem Hin und Her stand das Lochwesen mit allen vier Extremitäten auf dem Boden, mit dem Leib horizontal darüber. Auf diese Weise wirkte das Monster in gewisser Weise normaler, als in seiner sonstigen, unnatürlichen Haltung nur auf den hinteren Extremitäten.
Das Stabwesen nahm eine ähnliche Haltung ein, legte aber seine vorderen Tentakel auf den Rücken des Lochwesens. Dann schob es sich nach vorne und führte seinen Stab in die Öffnung des Anderen, wo es die bekannten Oszillationen begann. Und wieder wurden die Konjunktionsschwingungen beider Ungeheuer immer heftiger, bis die des Stabwesens endlich in der bekannten Explosion kulminierten, die dem Volk dieses seltsame Gefühl des kollektiven Glücks und der Wärme bescherten. Eilig empfahl die Biologin, Nahrung zu bringen. Besonders die Kcir Früchte, welche den Wesen so gut geschmeckt zu haben schienen. Sie brachte die zwei Früchte persönlich zu den Fremden und zerschnitt beide in der Mitte, da die Ungeheuer dazu offenbar zu schwach waren. Dann zog sie sich wieder zurück.
Blind tastend näherten sich die Weichwesen der Nahrung, und als sie diese endlich gefunden hatten, begannen sie hastig zu fressen. Die Biologin ließ auch Wasser herbeibringen, und zog sich dann zurück. Ein kollektives Gefühl der Befriedigung erfasste das Volk, als es in die Ruhephase übertrat. Auch die Monster stellten ihre Aktivitäten ein.
Kurz vor Hel geschah etwas Ungewohntes: Die beiden Wesen schienen einen Kampf aufzuführen. Das Stabwesen schlug seine Tentakel heftig gegen den Kopf und den Podex des Lochwesens, das an den getroffenen Stellen warm erstrahlte. Wellen der Aggression gingen von beiden aus, und erregten die Soldatinnen. Nur mühsam konnte die Biologin sie davon abbringen, die Monster zu vernichten. So nahe am Bau weckte Aggression sofort den Verteidigungstrieb.
Doch plötzlich wurde das Lochwesen still. Das Stabwesen bewegte sich ebenfalls langsamer. Schließlich schob es nicht den harten Stab, sondern seine Tentakel in das Loch des Anderen. Und dieses begann, Konjunktionsschwingungen auszusenden! Nach einiger Zeit wechselte das Stabwesen die Position und führte doch wieder seinen Stab ein. Beide Wesen sandten nun schnell heftiger werdende Schwingungen aus, und dann, das erste Mal, seit sie in der Gewalt des Volkes waren, kulminierten beide Monster fast gleichzeitig! Die Wirkung auf den Bau war enorm. Die Muskeln aller Glieder bis in die hintersten Verästelungen des Baus kontrahierten im Takt der Schwingungen und noch einige Zeit danach! Der Stoffwechsel aller Glieder und der Königin wurde simultan angeregt. Die Kollektivprojektion synchronisierte im Takt und löschte alle anderen Gedanken aus. Diese Veränderungen führten dazu, dass die Temperatur im Bau fühlbar anstieg, was wiederum die Aktivität der Glieder in Gang setzte, die sonst immer erst begann, wenn Hel am Himmel stand. Eine Schar Soldatinnen wurde ausgesandt, um den Nachbarbau zu überfallen, solange dieser noch in der Nachtträgheit war. Die Biologin aber empfahl dringlich, den Monstern viel Nahrung und Wasser zu liefern.
Und so geschah es: Die Soldatinnen brachten so große Mengen an Monsternahrung, dass diese nicht einmal alles absorbieren konnten, sondern den Rest des Wassers verwendeten, um ihre Oberflächen zu polieren und die Pelze zu waschen. Die Biologin empfand so etwas wie Stolz: Sie hatte recht behalten: Die Monster waren dem Volk von Nutzen!
Die Soldatinnen hatten wirklich leichtes Spiel mit dem Nachbarbau. Niemals bisher war es in der kühlen Jahreshälfte vorgekommen, dass ein kriegerischer Akt bereits vor Hel erfolgt war! Die Verteidigung des Nachbarbaus wurde mühelos überrannt, fast alle Soldatinnen und die Königin wurden getötet. Die Arbeiterinnen wurden versklavt und gezwungen, ihre eigenen Nahrungsvorräte zum Bau des Volkes zu schleppen. Als Hel aufging, war die Schlacht geschlagen. Das Volk würde sicher durch den Winter kommen!
Da geschah etwas Schreckliches: Eine gleißende Hitze raste über den Himmel auf den Bau zu und kam knapp über ihnen zum Stehen. Es war ein Gebilde ähnlich dem, aus dem die Monster gekommen waren, das sich bedrohlich über die Arena senkte, in der die beiden Weichwesen gefangen waren. Geistesgegenwärtig riet die Biologin, sich über die beiden zu stellen. Sie selbst machte den Anfang und stellte sich so, dass das Lochwesen unter ihrem Panzer geschützt war. Andere Glieder stellten sich neben und über sie. Ein Turm von Soldatinnen ragte schließlich über den Gefangenen auf. Und das fliegende Gebilde spie Feuer, in dem viele Soldatinnen vergingen. Aber es kamen immer Neue nach, und schließlich flog das glitzernde Ding wieder davon. Unerreichbar. Die Monster waren beide unverletzt geblieben. Und die Biologin hatte eine Erfahrung gemacht, die das Weltbild des Volkes für immer verändern sollte.
weiter geht es hier mit Chitin – Teil 13
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