Chitin 25

Epilog

—Viel später —

Bellavista, die Siedlung der Menschen, hatte sowohl Sommer als auch Winter von New Hope überstanden, und das mitgebrachte Saatgut war prächtig gewachsen, seit ein Brunnen das Wasser des riesigen unterirdischen Sees an die Oberfläche holte. Ziegen und Schafe knabberten an dem noch mageren Gras der Hochebene, bewacht von zwei übermütig umherspringenden Hunden. Sie würden bald Milch geben, um den öden Speiseplan des Synth zu ergänzen. Und irgendwann würden sie auch Fleisch liefern, obwohl Leena sich zur Zeit nicht recht vorstellen konnte, eines der Tiere zu töten und auszunehmen.

Leena hatte, mit Hilfe der halbautomatischen Baumaschinen, zwei Häuser errichtet. Eines an der Oberfläche, mit großartigem Panorama. Das eigentliche Bellavista. Und eines tief unter der Erde, am Ufer des Styx, wie sie den gigantischen Höhlensee, historisch nicht ganz korrekt, genannt hatte. Das wurde der wintersichere Teil der Siedlung, hundertfünfzig Meter unter der Oberfläche. Die Menschen würden für immer zwei Siedlungen benötigen, denn ein schutzloses Überleben an der Oberfläche war im Winter nicht möglich. Die ›Santa Maria‹ lieferte Energie für Licht und Wärme und würde das noch tausend Jahre lang tun. Doch sie würden andere Kraftwerke bauen. Sie und ihre Kinder.

 

Die ersten Jahre war Leena kaum zum Schlafen gekommen. Mehr als einmal machte sie sich klar, dass sie sich zuviel vorgenommen hatte, als sie zehn Kinder auf einmal ausbrütete. Sie hatte vorher nie Kinder gehabt, wohl deshalb hatte sie es sich leichter vorgestellt, als es dann wurde. Doch sie konnte es nun nicht mehr ungeschehen machen. Und so wurde sie eben Mutter, Vater, Krankenschwester, Lehrerin, Siedlungsplanerin, Handwerkerin und Bäuerin in einer Person, unterstützt nur vom unendlichen Schatz an audiovisuellem Unterrichtsmaterial auf der ›Santa Maria‹, und von den teils halb- teils vollautomatischen Maschinen, die sie mitgebracht hatten. Der monatelange, harte Drill vor dem Start zahlte sich nun aus: Die Projektleitung hatte darauf bestanden, dass jedes Besatzungsmitglied für alle Arbeiten der Kolonie geschult wurde. Sie hatte jeden Rhythmus verloren. Die wechselhaften Hell-/Dunkelphasen von New Hope ließen es sowieso fragwürdig erscheinen, sich an Uhrzeiten zu halten. Und so schlief sie eben, wenn sie müde war, und arbeitete, wenn sie es konnte.

Heute war das Ärgste überstanden; die Kinder konnten bei vielen Arbeiten mithelfen, und die reiferen von ihnen konnten auch schon Verantwortung übernehmen. Leena musste nun tun, was ihr schon lange auf dem Herzen lag: Sie musste den Bau besuchen. Den Ameisenbau, der das Schicksal der Expedition besiegelt hatte. Denn bei ihren gelegentlichen Überflügen hatte sie Seltsames gesehen: Der Bau kooperierte offenbar mit benachbarten Bauten. Es gab eine Art Straßen. Und es gab Felder. Künstliche Bewässerungsanlagen, die die Wüste außerhalb des Grüngürtels fruchtbar machte. Etwas war geschehen, und Leena wollte, nein musste, herausfinden, was es war.

Als sie in respektvoller Entfernung landete, ließ sie zunächst vorsichtshalber die Triebwerke auf zwanzig Prozent Leistung laufen, bereit, sofort durchzustarten, wenn die Ameisen herausgestürmt kamen.

Doch es näherte sich nur eine einzelne Formicide. Eine der kleineren Arten, ohne die riesigen, furchterregenden Kiefer der Soldatinnen. Und sie näherte sich langsam und blieb etwa fünfzig Meter vom Shuttle entfernt stehen.

Leena befahl Seli, dem Mädchen am Steuer, sofort zu starten, wenn etwas Ungewöhnliches passieren sollte. Die Kinder kämen jetzt zur Not alleine durch, das wusste sie. Mit einem Winken stieg sie aus und ging dem fremdartigen Wesen langsam entgegen.

Die Ameise rührte sich nicht, bis Leena unmittelbar vor ihr stand. Dann hob sie grüßend eine Art Fühler. Leena winkte zurück, doch die Ameise streckte den Fühler weiter vor, und machte mit dem anderen eine einladende Bewegung. Vorsichtig zögernd streckte Leena ihre Hand aus und berührte den Fühler, der sich samtweich anfühlte.

In diesem Moment erschien in ihrem Bewusstsein eine fremde Intelligenz. Als ob sie auf einmal im Kopf von jemand anderem wäre! Und die Konturen der Ameise, die immer noch reglos vor ihr stand, verschwammen. Aus den verwaschenen Formen kristallisierte sich eine andere Kontur. Leena erstarrte.

»Gianna!«

Sie wusste nicht, ob sie es laut schrie, oder nur in ihren Gedanken. Das schien im Moment ohnehin dasselbe zu sein.

»Hallo, Leena«, sagte die Gestalt mit einem anmutigen Lächeln.

»Bist du wirklich Gianna?«

»In gewisser Weise, ja.«

»Was ist passiert?«

»Ich bin gestorben. Und ich wurde Teil des Volkes.

»Du hast ihnen beigebracht, Bewässerungsanlagen zu erstellen und Nahrung anzubauen?

»Sie haben es durch mich gelernt. Und noch etwas viel Wichtigeres, als das.«

»Kooperation«, stellte Leena mit Blick auf die Straßen fest.

»Genau. Früher bekämpften sich die Völker alle gegenseitig. Heute bilden die sieben benachbarten Völker hier die erste Nation dieses Planeten.«

»Und was wird weiter geschehen?«

»Wer weiß?« Gianna zuckte die Schultern. »Und du? Du hast dich im Norden niedergelassen?«

»Ja.«

»Und du ziehst Kinder auf?«

»Ja.«

»Ich hätte auch gern Kinder aufgezogen. Das war mein Traum, als ich mich für die ›Santa Maria‹ bewarb. Eine Kolonie zu gründen. Kinder, die frei aufwachsen.«

»Es sind genauso deine Kinder, wie es meine sind, Gianna. Es sind die Embryonen von der Erde.«

»Ja.«

»Du kannst nicht mit mir kommen, nicht wahr?«

»Nein. Und du kannst nicht hier bleiben.«

»Sind wir Feinde oder Freunde?«

»Wir bewohnen gemeinsam diese Welt. Wir müssen keine Feinde sein. Doch wenn die Menschen das Volk bedrohen, werden wir uns wehren.«

Leena nickte. »Wir werden einen Weg finden, diese Welt gerecht zu teilen.«

Gianna nickte auch. »Ich hoffe es.«

So vieles hätte es zu sagen gegeben, dachte Leena. Und doch wollte es ihr nicht gelingen, all die Dinge zu formulieren, die sie so sehr bewegten. Das war auch gar nicht nötig, erkannte sie dann. Gianna, oder das Wesen, das Gianna darstellte, konnte in ihrem Geist lesen, wie in einem offenen Buch. Und dasselbe galt auch umgekehrt. Der Kontakt war intensiver, als es ein noch so langes Gespräch zwischen ihr und Gianna je hätte sein können. Irgendwann war der Austausch vorbei.

»Es war schön, dich zu sehen.«

»Es war schön, dich zu sehen.«

Leena ließ los, und im selben Moment fand sie sich wieder einer Ameise gegenüber, wo vorhin Gianna gestanden hatte. Sie fühlte die Tränen auf ihrem Gesicht. Die Ameise machte noch einmal eine winkende Bewegung mit ihrem Fühler und ging dann zum Bau zurück.

Schweigend bestieg Leena das Shuttle und wies Seli an, nach Bellavista zu fliegen. Ihr Herz war schwer, und sie sprach auf dem ganzen Flug kaum ein Wort. Doch als sie zuhause ausstieg und von einem vielstimmigen Hurra, einer Kakophonie aus Lachen, Rufen, Meckern und Bellen begrüßt wurde, da fühlte sie, wie eine tiefe innere Freude die Schwermut verdrängte. Ja, dies war ihr Zuhause! Und dieses Jahr würde sie die zweite Generation ausbrüten. Und die Mädchen der ersten Generation würden bald schwanger sein. Die Menschheit war auf New Hope angekommen.

*** Ende ***


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Das Titelfoto für diesen Beitrag wurde mir freundlicherweise
von dem Fotografen Thomas Mattern zur Verfügung gestellt.


Mehr von Thomas Mattern findet ihr in seiner Galerie bei unART-Fotokunst.


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