Chitin 21

Einundzwanzig

Leena studierte tagelang die Aufzeichnungen der Erkundungen von New Hope während des Anflugs und der beiden Umkreisungen. New Hope war etwas größer als die Erde, und größtenteils Wüste. Der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre war erdähnlich, aber Stickstoff machte nur 50% aus. Der Rest war Helium, Argon und Xenon, sowie verglichen mit der Erde etwa doppelt so viel Kohlendioxid. Die Luft war jedenfalls atembar. Nur: Warum waren die Widersprüche der Klimabeobachtung niemandem aufgefallen? Der Planet war staubtrocken, außer in den Auen der Flüsse. Keine Wolken, kein Regen. Aber wenn das so war, wieso gab es dann die Flüsse überhaupt? Alle entsprangen der Hochebene am Fuß des gewaltigen Polargebirges, dessen Gipfel sich bis zu neunzehn Kilometer hoch erstreckten. Irgendwie musste das Wasser dorthin kommen. Das Rätsel hing mit Sicherheit mit der verrückten Umlaufbahn dieser Welt zusammen. Sollte sie es riskieren, vier Jahre zu vergeuden, um einen kompletten Umlauf zu studieren, oder sollte sie einfach weiter reisen, mit unbekanntem Ziel? Die ›Santa Maria‹ konnte problemlos noch tausend Lichtjahre oder mehr reisen. Doch die Wahrscheinlichkeit, bei einer solchen Reise einen Planeten, und vielleicht sogar einen besseren Planeten, als diesen hier zu finden, war minimal. Sie hatte weder die astronomischen Kenntnisse noch die Apparate, mit denen die irdischen Forscher damals New Hope entdeckt hatten. Sie würde wahrscheinlich bis an ihr Lebensende mutterseelenallein durchs All fliegen, denn ohne vernünftiges Ziel würde sie auch keine Kinder ausbrüten wollen.

Sie entschloss sich, zunächst die nördliche Polarregion zu erforschen. Einige Zeit kreiste sie mit dem Shuttle über der Hochebene, die das schroffe Polargebirge umgab. Kein Wasser. Und kein Leben. Weder Pflanzen, noch Tiere, die groß genug gewesen wären, um aus der Luft gesehen zu werden. Eine mehrere Hundert Quadratkilometer große, topfebene Fläche, rund tausend Meter über dem Meeresspiegel erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein perfekter Ort, wenn es nur Wasser gäbe. Sie landete, und als einige Stunden lang nichts geschah, stieg sie aus. Die Luft hatte hier oben fast irdische Dichte und roch durchaus erfrischend. Es war kalt, unter dem Gefrierpunkt, obwohl beide Sonnen am Himmel standen. Bis auf einen dünnen Belag eines moosartigen Gewächses und einige winzige insektenähnliche Tiere, die darüber schwirrten und krochen, war kein Leben zu sehen. Leena wanderte ein Stück weit nach Süden, bis sie an einer spektakulären Klippe stand. Weit unter ihr schoss ein gigantischer Wasserstrahl mitten aus der Wand und stürzte mehrere Hundert Meter in die Tiefe, wo er einen Fluss bildete, an dessen Ufer üppige Vegetation wucherte. Mit dem Fernglas konnte man erkennen, dass die Grünzone mit Ameisenbauten übersät war.

Leena war keine Geologin, aber das brauchte sie auch nicht zu sein, um zu erkennen, dass es unter dem Boden dieser Hochebene viel Wasser geben musste. Der Fluss konnte ja nicht aus dem Nichts kommen. Die Steilwand war eine perfekte Barriere gegen Attacken der Ureinwohner. Lange stand Leena nahe am Abgrund und blickte erst hinunter und dann nach oben, drehte sich um ihre eigene Achse und atmete die eiskalte, erfrischende Luft. Es war ein unfassbar ergreifender Anblick. Die schroffe Klippe, der grandiose Wasserfall, die wilde, ursprüngliche Landschaft, und im Hintergrund das gigantische Gebirge. Und dann diese beiden Sonnen! Der dunkelrote, fast schwarze Riese, der so nah wirkte, dass man glaubte, ihn berühren zu können. Sein Licht war schwach, man konnte ihn mit bloßem Auge ansehen und die glühenden Gasfontänen verfolgen, die sich immer wieder von seiner Oberfläche lösten und Millionen von Kilometern weit ins All loderten. Und daneben der weiße Zwerg. Weit weg, aber tausendmal heller und heißer, als die irdische Sonne. Ein grellweiß glühender Punkt, der für messerscharfe Schatten sorgte, und die Landschaft noch grandioser machte, als sie es ohnedies schon war. Leenas Herz klopfte, und sie fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Nein, sie würde nicht mehr weiter reisen. Die Menschheit hatte hier ihre neue Heimat gefunden. Und die Menschheit würde hier überleben, dafür würde sie sorgen!

Kurze Zeit später bestätigte eine Geosonde die Existenz eines unterirdischen Sees, und die ›Santa Maria‹ trat die allerletzte Etappe ihrer Reise an. Sie war dafür konstruiert, einmal sicher auf einer Planetenoberfläche landen zu können. Aber dann würde sie nie mehr abheben. Sei’s drum: Leena brauchte sie unten am Boden. Der Winter würde kalt werden, und das Schiff musste geschützten Wohnraum und genügend Heizenergie liefern.

Sie ahnte nicht, wie kalt der Winter wirklich würde.


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2 Gedanken zu „Chitin 21“

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