Chitin 05

Fünf

Das Stabwesen schien einen überraschend hohen Selbsterhaltungstrieb zu haben. Obwohl es von seinem Volk getrennt und obwohl sein Bau zerstört war, kämpfte es mit aller Macht gegen die Mandibel, die es festhielten. Noch eine Seltsamkeit dieser weichen Ungeheuer. Ein Glied eines vernunftbegabten Volkes würde sich in sein Schicksal ergeben. Kein Glied war so wichtig, dass es sich dafür zu kämpfen lohnte. Nur für das Volk musste man kämpfen! Doch dieses monströse Wesen kämpfte für sich selbst, als ginge es um das Schicksal des Volkes. Dabei sandte es heftige Impulse von Panik und Wut aus, die in den Soldatinnen den Aggressionstrieb weckten. So war es zu erklären, dass die Vivisektion etwas grober vor sich ging, als es die Biologin eigentlich gerne gehabt hätte. Dazu kam, dass schon nach dem ersten Schnitt über den Leib des Wesens rot gefärbtes Wasser zu fließen begann. Tatsächlich schien das Ungeheuer geradezu angefüllt mit Wasser. Doch immerhin konnte man nun erkennen, wie die Monstren sich aufrecht halten konnten: Sie hatten doch ein Skelett. Dieses war aber innerhalb des Körpers, und von weichem Gewebe umgeben. Also genau umgekehrt, wie beim Volk. Der Sinn dieser seltsamen Konstruktion blieb unklar. Dadurch war das Wesen lächerlich verletzlich. Ein Angreifer gelangte erst ins weiche Fleisch, bevor er auf Widerstand treffen musste. Selbst der Stab, der sich beim anderen Stabwesen so eindrücklich in das Lochwesen gebohrt hatte, war seltsam weich und haltlos. Er konnte mühelos abgetrennt werden. Die nähere Untersuchung dieses Fragments ergab leider keine Erklärung dafür, wie es seinen Zustand von schlauch- zu stabförmig ändern konnte. In der oberen Hälfte des Leibes war ein zuckendes Organ, das offenbar für den Transport des roten Wassers durch den Körper verantwortlich war. Denn als es mit seinem Zucken aufhörte, spritzte das Wasser auch nicht mehr aus den frisch geschnittenen Öffnungen, sondern sickerte nur noch langsam heraus. Es schmeckte seltsam. Nicht wie normales Wasser. Der Körper des Wesens war von einer unfassbaren Wärme, viel wärmer als die Umgebung, aber man fand keine Ursache, die dieses Phänomen erklären konnte. Keine Sonne und kein Feuer im Inneren des Wesens. Nur Wärme.

Frustrationsgefühle waren dem Volk fremd. Man tat eben, was man tun musste, und entweder erreichte man ein sinnvolles Ziel, oder eben nicht. Deshalb nahm es die Biologin mit stoischer Ruhe zur Kenntnis, dass die Vivisektion des Stabwesens kaum neue Erkenntnisse gebracht hatte. Außer der, dass es sein Skelett innen trug, bis zum Rand mit rotem Wasser gefüllt, und extrem leicht zerstörbar war.

Die beiden anderen Wesen waren wieder in die Mitte ihres Gefängnisses gegangen, hatten ihre Extremitäten dicht an den Leib gezogen und die Kopffortsätze aneinander gedrückt. Das Lochwesen schien auch am Kopfende Wasser abzusondern. Aber noch immer war keinerlei Kommunikation festzustellen. Womöglich waren die Monster überhaupt nicht intelligent? Der Tag verlief völlig ereignislos. Nur einmal sprang das Schlauchwesen abrupt auf und rannte gegen die Soldatinnenfront auf der dem Bau abgewandten Seite des Wachkordons. Eine der Soldatinnen wischte es mit einer lässigen Bewegung des Fühlers wieder zurück an seinen Platz. Es wurde nicht ganz klar, was das Wesen mit dieser Aktion hatte erreichen wollen. Vermutlich reines Instinktverhalten.

In der nächsten Thet-Periode ereignete sich nichts Besonderes. Die beiden Monster strahlten zwar immer noch warm, aber es gab keine zusätzliche Hitze, wie in der letzten Thet. Der Schlauch des Stabwesens wurde kurz zum Stab, aber es steckte ihn diesmal nicht ins Lochwesen. Als Hel über den Horizont stieg, blieben die Ungeheuer zunächst liegen. Sie schienen müde zu sein. Erst nach einiger Zeit erhob sich das Stabwesen und führte wieder einen Wasserangriff durch. Diesmal kam aber nur ein dünnes Rinnsal aus seinem Schlauch. Der Vorrat schien erschöpft zu sein. Das Wasser war stärker gelbbraun verfärbt und roch stechender, als am Vortag.

Die Wesen schienen dem Ende nah zu sein, konstatierte die Biologin mit leichtem Bedauern. Sie würde sie gerne noch näher studieren, aber da sie ihren Bau und ihr Volk verloren hatten, waren die beiden ohnehin geliefert. Aber wenn man sie wenigstens noch einige Tage am Leben halten könnte?

Das Volk hatte keinen Begriff von Langeweile. Es pflegte zu warten, bis etwas geschah, auf das man reagieren musste. Die Arbeiterinnen besorgten Nahrung für den Bau, die Soldatinnen bekämpften Feinde aus anderen Bauten und erlegten Beutetiere, und die Biologin und die Wächterinnen warteten.

So versank Hel ein weiteres Mal am Horizont, und auch im nächsten Thet gaben die Monster keine besonderen Impulse von sich. Sie bewegten sich kaum noch.

 

 


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Das Titelfoto für diesen Beitrag wurde mir freundlicherweise
von dem Fotografen Thomas Mattern zur Verfügung gestellt.


Mehr von Thomas Mattern findet ihr in seiner Galerie bei unART-Fotokunst.


Vielen Dank auch an das wunderbare Model Tjara für die Erlaubnis ihr Bild zu nutzen.

Mehr von ihr findet ihr auf ihrer Facebookseite TjaraModelPage, wo sie eine Galerie mit weiteren Fotos hat und wo sie auch gebucht werden kann.


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2 Gedanken zu „Chitin 05“

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