Aphantasie

Aphantasie:
wenn man nicht in Bildern denken kann

Vor einigen Jahren trat eine Freundin an mich heran und bat mich um Hilfe. Sie studierte Grafikdesign und wollte, dass ich mich sozusagen als Model für ihre Diplomarbeit zur Verfügung stelle. Ich war nicht wenig erstaunt, als sie mich dazu einlud, die Nacht bei ihr zu verbringen. Falls ihr erwartet, dass ich euch jetzt mit irgendeiner ausgefallenen erotischen Eskapade beglücken werde, muss ich euch leider enttäuschen. Ich schlief allein, über mir war eine Kamera fixiert, die alle 30 Minuten ein Bild schoss. Das Ergebnis dieser Bildserie seht ihr oben. Beim Frühstück fragte sie mich, was ich geträumt habe.

„Nichts“, lautete meine Antwort, „ich träume nur sehr selten.“

Das heißt, wahrscheinlich träume ich wie jeder Mensch, nur kann ich mich fast nie an meine Träume erinnern. Sie fragte mich, ob es denn einen wiederkehrenden Traum gibt. In ihrem Projekt ging es nämlich genau darum, Träume zu visualisieren. Interessante Sache an einem solchen Projekt teilzunehmen, fand ich. Schmeichelte natürlich auch ein wenig meinem Ego, wie ich zugeben muss. Denn es gab zum Semesterende eine kleine Ausstellung, mit den Bildern, die wie ich fand, sehr gelungen waren. Thema dieses Blogs ist jedoch ein anderes.

Doch bevor wir dazu kommen, ein kleiner Test. (Falls ihr Euch über die Bildauswahl wundert. Das hier ist ein Erotik/SM-Blog, da muss es doch wenigstens ein erotisches Bild in einem ansonsten unerotischen Blog sein.) Seht euch bitte dieses Bild an und merkt Euch ein paar Details. Haarfarbe der Models, Schmuck, Fingerhaltung, Bondage, Spiegelbild. Wenn ihr dann die Augen schließt, geht diese Details durch und merkt Euch ganz genau, was ihr seht und vor allem wie ihr es vor eurem inneren Auge seht.

Nun zurück zu dem Frühstück. Dieses Gespräch war für mich eine Offenbarung oder je nachdem eine traumatisierende Erkenntnis. Ich erfuhr nämlich da zum ersten Mal, dass es Menschen gibt, die tatsächlich richtige Bilder vor ihrem geistigen Auge sehen. Diese Grafikdesignerin konnte sich vor ihrem gesitigen Auge bewegte Bilder, also Filme ansehen, auf Wunsch sogar in 3D. Mich hat das damals eine ganze Weile beschäftigt, und ich habe alle Freunde, Kollegen und Verwandte ausgefragt. Dabei habe ich nie jemanden getroffen, der wie ich, nur Schwärze sieht, wenn er die Augen schließt. Damals dachte ich, die Leute reden sich das ein, die sehen nicht wirklich was. Kürzlich las ich dann einen Artikel mit dem Titel ›blinde Fantasie‹, was mich darauf brachte, das Phänomen zu recherchieren und diesen Blog zu schreiben.

Francis Galton, ein Cousin von Charles Darwin, beabsichtigte „die verschiedenen Grade der Lebendigkeit zu definieren, mit denen verschiedene Personen die Fähigkeit haben, vertraute Szenen unter der Form von geistigen Bildern zu erinnern“. 1880 bat er seine Kollegen, an ihren Frühstückstisch zu denken und die Lebhaftigkeit ihrer Eindrücke zu beschreiben. Er fand heraus, dass die Fähigkeiten dazu sehr unterschiedlich waren; einige Einzelpersonen konnten sich ein geistiges Bild absolut realistisch und detailliert vorstellen, während andere nur ein sehr schwaches oder überhaupt kein Bild sahen. Galton beschrieb Aphantasie als verbreitetes Phänomen unter seinen Kollegen in der Wissenschaft, während es in der ›normalen‹ Bevölkerung genau umgekehrt war. Das Thema geriet in Vergessenheit, bis 2005 Professor Adam Zeman von der Universität Exeter von einem Mann angesprochen wurde, der seine Fähigkeit der bildlichen Vorstellung verlor, nachdem er eine kleinere Operation gehabt hatte. 2015 veröffentlichte Zeman ein Paper zu sogenannter ›angeborener Aphantasie‹. Demnach können Menschen mit Aphantasie, obwohl sie kein bildliches Vorstellungsvermögen besitzen, dennoch in Träumen Bilder visualisieren. Laut Online-Umfragen ›leiden‹ ca 2 % der befragten Menschen an Aphantasie, wobei Frauen seltener betroffen sind. Diese Ergebnisse sind jedoch keinesfalls repräsentativ. Weitere Studien sind in Planung

 

Nach dieser kurzen Übersicht zurück zu mir. Ich halte mich für einen äußerst fantasiebegabten Menschen, ohne eine ausgeprägte Fantasie könnte ich wohl kaum schreiben. Auch hatte ich nie das Gefühl und habe es auch jetzt nicht, an einer Behinderung zu leiden. In IQ-Tests erreiche ich bei Fragen zum ›räumlichen Vorstellungsvermögen‹, dabei muss man z.B. Würfel vor dem geistigen Auge drehen, regelmäßig volle Punktzahl. Ich hatte (jedenfalls bis Navigationsgeräte aufkamen) nie Probleme, mich mit oder ohne Karte zu orientieren. Bei Flugstunden im Simulator gab es einen Test, bei dem es darauf ankommt, im Blindflug und ohne Instrumente nach diversen Flugmanövern die eigene Lage im Raum zu beurteilen. Bei diesem Test schnitt ich ebenfalls überdurchschnittlich gut ab. Die Liste ließe sich fortsetzen, z.B. mit passablen handwerklichen Fertigkeiten, Möbel nach eigenen Entwürfen zimmern oder schweißen ist kein Problem. Gesichter auch von flüchtigen Bekannten erkenne ich nach Jahrzehnten wieder, blöderweise vergesse ich Namen nach wenigen Minuten.

 

Ihr erinnert Euch noch an das Bild von oben? Wie erinnert ihr es? Seht ihr es wirklich in allen Details auf Euren geschlossenen Lidern? Ist es sehr detailliert oder teilweise verschwommen? Wenn ich meine Augen schließe, dann sehe ich da nur Schwärze. Stellt euch vor, ihr zieht eine schwarze Decke über dieses Bild. Ihr wisst immer noch, dass dieses Bild da ist, aber nicht mehr sichtbar. Genau das ist es, was ich sehe, wenn ich in ›Bildern denke‹. Ich weiß einfach, wie es aussieht. Ich kann in gewisser Weise sogar ins Bild hineinzoomen, oder Details ändern. Beispielsweise könnte ich ihr pinkes Haar blau färben oder die Stahl- gegen Lederfesseln austauschen.

 

Übrigens habe ich diese ›Einschränkung‹ auch bei allen anderen Sinnen. Ich kann mir irgendwie vorstellen, wie sich Samt, Haut oder kalter Stahl anfühlt, fühle aber nichts in meinen Fingern. Ich kann in meinem Kopf lautlos dadadada singen, wenn ich an Beethovens Neunte denke. ›Wish you were Here‹ von Pink Floyd assoziiere ich mit der richtigen Folge von mh-mh-mh-mhs. Wirklich hören tue ich da aber auch nichts, es ist nur eine Illusion von Tönen. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, dass man Dinge einfach so in seinem Kopf hören kann. Andererseits habe ich ein ausgezeichnetes Stimmengedächtnis, mit teilweise irritierenden Folgen. Weil die eine Episode, die ich von „The Walking Dead“ gesehen habe, deutsch synchronisiert war, hat Negan in meiner Erinnerung eine dunkle Hautfarbe, trägt eine Star Trek Uniform und einen Visor. Liegt daran, dass Negan vom gleichen Sprecher synchronisiert wird wie Geordi la Forge. Noch verrückter ist es, wenn ich mir einen Marvel Film mit Iron Man in deutsch ansehe. Tony Stark spricht nicht mit der Stimme, die ich (in deutsch) erwarte. Das heißt, Robert Downey Jr. wird in Marvel-Filmen von einem anderen Sprecher synchronisiert  als in anderen Filmen, die ich kenne. Das fällt mir auf, aber ich gewöhne mich schnell daran. Die Stimme ist ja okay und außerdem sehe ich ihn auch die ganze Zeit. Sobald Tony Stark aber die Iron Man Rüstung anlegt, passiert etwas sehr Merkwürdiges. Für mich steckt dann nicht mehr Robert Downey Jr. unter der Rüstung, sondern Brad Pitt. Den die Stimme mit der Iron Man spricht gehört für mich zu Brad Pitt. Dieser Sprecher spricht Pitt in allen seinen Filmen, außer bei Troja und höchstens noch bei ein paar uralten oder total unbekannten Filmen.
Wie ich oben schon erwähnte, träume ich nur selten, aber wenn ich träume, dann träume ich in Bilder. Manchmal träume ich nur schwarzweiss, meistens jedoch  in Farbe. Zumindest bilde ich mir das ein, jedenfalls erinnere mich an eine Traum genau so, als hätte ich ein Bild bzw. einen Film gesehen.

Nachdem ich jetzt alles, was es zu diesem Thema gibt, gelesen habe,  frage ich mich immer noch: Sehen die anderen wirklich was, wenn sie ihre Augen schließen? Ist es vielleicht irgendein Psychotrick, den sie mit sich selbst spielen, so wie False Memory oder Konfabulation? Mir geht es nicht in den Kopf, wie das funktionieren soll. Aber gut, ich will Euch mal glauben. 😉 Auf jeden Fall werde ich dieses Thema im Auge behalten. Muss ich ja sowieso, denn in einer meiner nächsten Geschichten wird es einen Synästhetiker geben. Das ist das andere Extrem. Manche von denen schmecken Geräusche, andere können Töne sehen.

Wie ist das bei Euch? Kommt euch das bekannt vor, seht ihr wirklich richtige bunte Bilder oder wie ich auch nur Schwärze?


Links:
Wikipedia: Aphantasie

Auf Facebook gibt es einen lesenswerten Essay von einem anderen Aphantasten Blake Ross, Mitgründer von Mozilla, Programmierer und Autor. Er beschreibt es ganz anders als ich. Während ich irgendwie unterbewusst sehen kann, was sich auf dem Bild hinter der schwarzen Decke verbirgt, gibt es für ihn nichts als Worte und vage Assoziationen, sobald er die Augen schließt.

Auf Vice beschreibt Trevor Risk, der an der Studie von Prof. Zeman teilgenommen hat, seine Aphantasie.


Dies ist übrigens das Ergebnis, die Visualisierung des damaligen Projekts:

Man beachte die Spiegelung im Auge 😉

 

 

 

 

 

5 Gedanken zu „Aphantasie“

  1. Mir geht es da in etwas genauso wie Dir. Das mit der schwarzen Decke… Ich beschreibe es, wie wenn die Erinnerung hinter einem schwarzen, blickdichten Vorhang ist. Mein Unterbewusstsein kann dahinter gucken und daher weiß ich, wie es dahinter aussieht, auch wenn ich es bewusst nicht wahrnehme.
    Wenn ich bewusst denke, tue ich es übrigens (fast?) nur in Worten. Genauso wenn ich mir eine Phantasiegeschichte ausdenke. Das ist, als würde ich etwas diktieren: „A streichelt ein Pferd an der samtigen Nase, es ist schwarz mit einer weißen Blesse … ne, keine Blesse, nur ein kleiner Stern an der Stirn … es schnaubt, senkt den Kopf und …“

  2. Sehr interessanter Blogeintrag.

    Vorher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht aber beim Lesen dieses Beitrags fiel mir dann auf, dass es mir genauso geht.
    Ich sehe auch nur Schwärze.

    1. @saskia: ich glaube das geht uns allen so. Bei mir war es ja genau so. Die Reaktionen und Nachrichten auf diesen Beiträg bestätigen das ebenfalls. Entweder ist man geschockt, weil „wie, du kannst dir keine Bilder vorstellen“ oder man ist geschockt, weil man sich nicht vorstellen kann, wie das gehen soll.

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